Ein interessanter Vortrag über Begehbarkeit (walkabilty) hat mich angeregt, doch auch etwas mehr dazu zu schreiben.
Vier Forderungen müssen gleichzeitig erfüllt werden, damit Leute lieber den Fußweg wählen:
1. Vorteil gegenüber anderen Verkehrswegen (Sinn)
2. Sicher sein und sich auch sicher anfühlen (Sicherheit)
3. Bequem sein (Bequemlichkeit)
4. Interessant sein (Attraktivität)
Viele Parameter beeinflussen dies: sie alle gehen darauf zurück, dass wir Menschen (wie andere Lebewesen auch) gleichzeitig Aussicht (Übersicht) und Zuflucht (Schutz) suchen (prospect and refuge).
Eine wichtige Rolle spielt das Verhältnis Breite des Weges zur Höhe der flankierenden Gebäude. Sind die Gebäude zu hoch, dann erdrücken sie. Es ist aber leicht, den Eindruck der Höhe durch Vorbauten zu kaschieren.
Fußgänger wählen im Alltag immer den absolut kürzesten Weg. Wer also Wege ausweisen muss, sollte unbedingt darauf Rücksicht nehmen. Zuerst anschauen, wo tatsächlich gegangen wird und dann diese Wege besser begehbar machen. Dies gilt übrigens für die meisten anderen Verkehrsfragen auch: Anschauen, verbessern, eventuelle Fehler beheben, neue Versuche wagen.
Ich würde immer bei der Aufenthaltsqualität beginnen. Zwei gute persönliche Beispiele: Die Bank im Gärtle vom Buchkaffee Vividus und die Stühle um den Primer Express an der Neckarbrücke. Gemeinsam ist ihnen: Bequemer Sitz, hoch genug, weich und mit Lehne, eben (nie schräg), der Rücken ist geschützt, bei Kälte gibt es auch eine Decke, beide werden nachts weggeräumt und sie stehen tagsüber unter Beobachtung. Ziemlich windgeschützt und man kann sowohl die Sonne finden, wie auch vermeiden. Es gibt immer was zu sehen. Autos, Radler, andere Fußgänger. Es gibt preiswert was zu trinken, eine nahe Toilette und Stammgäste, die einen persönlichen Bezug zum Personal und auch untereinander haben. Mit jedem, der vorbeigeht, kann gesprochen werden. Extrem niederschwelliger Kontakt ist also möglich. Und bei beiden sind gegenüber auch öffentliche Bänke, wenn man nichts konsumieren will. Das Primer hat den Vorteil, dass dort keine Drogenabhängigen herumhängen. Dafür gibt es beim Vividus einen Marktstand, der für Leben sorgt.
Wenn ich in fremden Städten Aufenthaltsqualität beurteilen soll, dann hilft es, sich die Menschen anzuschauen, die sich lange dort freiwillig aufhalten, aber damit keine finanziellen Interessen verfolgen. Parks mit spielenden Kindern, musizierende Jugendliche, Senioren, die schöne Ausblicke genießen, sind gute Indikatoren.
Salopp könnte man sagen, dies erinnert alles doch an Dörfer. Ja, ich denke, dörfliche Umgebungen zu schaffen, scheint mir tatsächlich eine gutes Denkmodell für lebenswerte Städte zu sein.
Ich beobachte gerne, liebe es also, wenn sich was bewegt. Aber ich stelle dabei fest, dass die Bewegung langsam genug sein muss, damit sie interessant bleibt. In etwa 10 Meter Entfernung etwa 5 km/h quer zur Blickrichtung. Das ist ungefähr das Tempo vorbeigehender Fußgänger. Ist sie wesentlich schneller, z.B. wenn Auto vorbeifahren, dann nervt sie entweder und/oder wird ausgeblendet.
Eines der größten Hindernisse bei der Wahl eines Weges in der Stadt sind Dunkelheit oder Dreck. Beide, aber vor allem Dreck bedeuten Unsicherheit und assoziieren Kriminalität, mit einem Wort meiden! Die meisten Graffiti in Tübingen sind auch nur Dreck. Für unsere Grünen sind sie leider Kunst. Und den anderen Tübingern fallen sie gar nicht mehr auf. Ich kann mich noch erinnern, wie OB Herausforderin Beatrice Soltys den Dreck bemängelt hat. Welche Empörung beim grünen OB, sein Tübingen ist absolut sauber.
Ein wichtiger Aspekt bei der Sicherheit ist, dass sie bei allen Wetterlagen gegeben sein muss. An Regen, Eis und Schnee wird meist noch gedacht, aber oft wird der Wind (oder noch schlimmer der Sturm) vergessen. Wenn Straßen mit Kundenstoppern oder nicht befestigten Schildern zugemüllt werden, sind Unfälle vorprogrammiert.
Da der Wind in Flusstälern besonders ungebremst stark strömen kann, sind lange Brücken ein Grund, sie nicht zu Fuß zu überqueren. Es waren also nicht nur Platzprobleme, sondern auch der Komfort ein Grund, Brücken zu bebauen, wie die Rialtobrücke in Venedig oder der Ponte Vecchio in Florenz.
Als Idealziel für gute Begehbarkeit stellen sich die Tübinger Fußgängerzonen vor. Diese Fußgängerzonen sind im wesentlichen ein mitteleuropäisches Phänomen. In heißeren oder kälteren Regionen zieht man überdachte, geschlossene, klimatisierte Räume, z.B. wie Einkaufszentren, Malls, Passagen vor, um sich dort zu Fuß aufzuhalten.
Ehrlich gesagt, habe ich noch nirgends in einer bewohnten Umgebung eine ideale Fußgängerzone erlebt. Auch in anderen Orten nicht. Höchstens in Form von Innenhöfen oder kleineren Parks ohne Gebäude und mit Mauern abgetrennt. Oder in Venedig. Selbst in Friedhöfen herrscht viel Verkehr, wie ich täglich beobachten kann. Der Begriff Fußgängerzone ist für mich eine grün angestrichene politische Mogelpackung, die unmögliches verspricht. Denn fast überall müssen sich die Fußgänger den Platz mit anderen Verkehrsteilnehmern teilen. Radfahrer, Zulieferverkehr, Abfallentsorgung, Krankentransporte, Seniorentaxis, Aufsicht, Baustellenfahrzeuge oder Einsatzfahrzeuge. Und ich sehe darin auch keine großen Nachteile, es lohnt sich daher nicht, allzu streng den Begriff auszulegen.
Auch der in Tübingen verwendete Begriff Spielstraße (richtiger jetzt Verkehrsberuhigter Bereich) ist für eine Hauptstraße unzutreffend und irreführend. Treffender wäre der Begriff Shared Space oder eingedeutscht Gemeinschaftsstraße. Mir ist ein stehender Liefertransporter (der wie manche Postautos schon elektrisch betrieben wird), der gerade entladen wird - und den ich kaum übersehen kann - lieber, als diese Unzahl von Pollern und Betonklötzen, die man braucht, um ihn abzuhalten und über die man auch als Fußgänger oder Radfahrer leicht stolpern und sich schwerst verletzen kann. Leider alles schon passiert in meinem Bekanntenkreis. Allerdings habe ich Sorge, dass die Angst vor LKW Terror doch wieder Poller notwendig machen wird.
Etwas krampfhaft hat man in Tübingen versucht, Bordsteine und Gehwege zu eliminieren, damit der Eindruck von Fußgängerfreundlichkeit vermittelt wird. Die Folge ist, dass der Zulieferverkehr jetzt dort im Wege steht, wo früher die Fußgänger sicher gehen konnten. Und ein weiterer Nachteil ist, dass sich die Anrainer nicht mehr für die Räumung und Sauberkeit der Gehwege verantwortlich fühlen. Früher ebene Flächen sind nun krumm geworden. Und es sieht hässlich aus, wenn die Gehwege wegfallen. Denn der Eindruck von Höhe wird angenehm gemildert, wenn ein kleiner Vorbau oder ein Sockel in Form eines Gehwegs vorhanden ist.
In einer alternden Gesellschaft sind immer auch Rollstuhlfahrer oder Senioren mit Rollatoren unterwegs. Für sie ist wichtig, dass die Wege wirklich glatt sind und sie beim Benutzen nicht in eine Schräglage kommen. Ich plädiere ja dafür, dass Asphalt für die Glätte sorgt. Er ist preiswert, pflegeleicht, kann leicht bunt angelegt werden, ist im Winter gut von Schnee und Eis frei zuhalten. Und man kann aus ihm keine Pflastersteine einfach ausbrechen und damit Schaufenster einwerfen. Leider bin ich damit in der Minderheit.
Städte mit Hügeln brauchen auch einige Treppen und steilere Wege, damit mit sie begehen kann. Und beide brauchen Handläufe zum sicheren Gehen. In Tübingen ist das leider nicht Standard. Aus praktischer Erfahrung weiß ich, dass es günstiger ist, Handläufe etwas höher als genormt anzubringen. Dann können sie sowohl kleinere, aber auch größere Menschen als der Durchschnitt problemlos benutzen.
Mir kommen übrigens die meisten Tübinger Treppen zu steil vor. Die Norm lässt hier einen weiten Spielraum zu. Hat man genügend Platz, dann sind flachere Treppen viel angenehmer.
Ein wesentlicher Wohlfühlfaktor ist die Stadtmöblierung. Wer hässliche Beispiele dazu sucht, der komme nach Tübingen. Dort hat man die Stadtmöbel beim Zinserdreick und in der Mühlstraße z.B. im wesentlichen nur dazu missbraucht, Autofahrer zu schikanieren. Leider trifft es dann auch die Einsatzfahrzeuge. Aber sie sind perfekt für Ratten und Tauben.
Ein anderes typisches Kennzeichen sind die unzähligen Stelen, die großteils ignoriert werden und deshalb nur teuer und unnötig sind. Oder Sandhaufen an Orten, wo ich nie meine Kinder spielen lassen würde und ohne Bänke, damit man sie sitzend leichter beobachten könnte. Und wo Kinder wirklich gut spielen könnten, wie auf der Schulbergterrasse, scheint es unmöglich zu sein, einige Schubkarren voll Sand dort abzuladen.
Liebe StadtplanerInnen, Bänke die keine waagrechte Sitzfläche und keine Rückenlehne haben, sind nur Hindernisse. Niemand kann darauf länger sitzend verweilen. Und wer will schon, dass man sie nur zum Liegen einsetzt? Sollen auch alte Leute sich darauf niederlassen, dann muss auch die Sitzhöhe hoch genug sein (50cm), sonst haben sie Probleme beim Aufstehen.
Die über die Stadt verstreuten TüBusHaltestellen, die von STRÖER gestaltet werden, sind vom Entwurf ganz gut gelungen. Da stimmen Bänke, Höhe, Windschutz und auch Beleuchtung. (Sitzhöhe etwa 50 cm, Sitzfläche 40 x 140 cm, pro Einheit. Gelegentlich würde ich mir mehr Einheiten wünschen). Problematisch sind allerdings inzwischen die Sauberkeit (weil kein Regen dort den Dreck wegspülen kann), sowohl am Boden, wie auch auf den Sitzen und auch die Auswahl der Werbung (mit Alkohol und Nikotin). Andere, wie die Haltestelle Wilhelmstraße beim Lustnauer Tor hat jemand gestaltet, der dort offenbar nie selbst wartet. Die kümmerlichen Sitzbänke sind viel zu niedrig. Da es keine saubere, andere Möglichkeit gibt, schwere Taschen abzustellen, warten im wesentlichen Taschen darauf und die Menschen stehen.
Kunst im öffentlichen Raum wird selten ungeteilte Zustimmung bekommen. Es hängt aber auch davon ab, was gezeigt wird. Die Plastiken in Konstanz (von Peter Lenk) werden geschätzt, ein toter Baum beim Zinser Dreieck in Tübingen ist eher peinlich. Wenn man Kunst erklären muss, dass ist sie entweder schlecht oder am falschen Ort.
Wer sich langsam durch eine Stadt bewegt, der sieht nicht nur die schönen Seiten besser, sondern auch die hässlichen Details. Dazu gehören auch die Folgen des Vandalismus, der Zerstörungswut. In Tübingen sehe ich im wesentlichen zwei Ursachen dafür. Politische Gründe (macht kaputt, was euch kaputt macht) und Langeweile bei Jugendlichen. Jugendliche könnte man mit besseren Angeboten herausfordern, aber selbst da tut man sich schwer. Von einem Kaufmann, dessen Scheiben öfter eingeschlagen wurden, habe ich gelernt, dass die beste Antwort ist, die Scheiben einfach schnell wieder zu ersetzen. Die tiefer liegenden Ursachen, wie extreme politische Anschauungen zu korrigieren, scheint eine unmögliche Angelegenheit zu sein. Und leider gibt es aber auch einfach nur psychisch Kranke. Eine gute Messlatte dafür sind für mich die sichtbaren Symptome der Angst (z.B. vor Elektrosmog) und die Anzahl der Psychiater, die in Tübingen fünf mal höher als der Durchschnitt ist.
Streng genommen gehören öffentliche Toiletten nicht zur Stadtmöblierung. Aber sie und Trinkwasserbrunnen tragen wesentlich zur Akzeptanz einer Stadt für Touristen bei. Alle vier großen, öffentlichen Parks in Tübingen (Platanenallee, Anlagenpark, Alter Botanischer Garten und Nordhang des Österbergs) sind ohne Toiletten. Jeder kann sich selbst einen Reim darauf machen, warum das tübisch sein muss. Ein Hinweis vielleicht: Geiz? Oder anderes aus der Liste der zehn üblichen Erklärungen für Missstände: Dummheit, Faulheit, Geiz, Neid, Gier, Egoismus, Korruption, Medienversagen, Ideologie und Desinteresse.
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