Die Wanne ist ein Stadtteil im Norden von Tübingen. Ich wohne dort seit dem Mai 2018. Ich kannte diese Gegend aber schon vorher, weil ich dort viele Jahre lang in eine (nicht mehr existierende) Sauna gegangen bin.
Die nahe Bushaltestelle heißt Wanne-Kunsthalle und von dort gibt es zur vollen und halben Stunde knapp hintereinander drei Buslinien in die Stadt, wie es die Tübinger sagen, TüBus 5, 13, 17. Und oft kommen sie alle drei fast gleichzeitig, meistens auch in dieser Reihenfolge.
Nachdem ich dort eingezogen war, lernte ich die Wanne wesentlich besser kennen. Es ist ein großer Unterschied, ob man irgendwo nur zu Besuch ist oder ob man dort zuhause ist. Wie fast überall machen die Menschen den Unterschied. Und es braucht doch lange, bis man sich richtig orientiert.
So fragte ich, welcher Bus der beste ist. Die Antworten waren sehr verschieden. Viele Menschen kommen gar nicht einmal auf die Idee, dass man Alternativen ausprobieren kann. Also probierte ich selbst. Rentner haben ja Zeit und können sich daher auch Fehler leisten.
Es liegt nahe, immer den ersten Bus zu nehmen. Aber ist das auch die beste Wahl? Nein, definitiv nicht. Denn obwohl naiverweise betrachtet, die Linien laut Fahrplan fast alle auch gleichzeitig im Städtle ankommen, so ist doch das Fahrerlebnis ein ganz verschiedenes.
Der 5er ist der vollste. Schon beim Einsteigen ist er mit Studierenden gut gefüllt. Die meisten davon steigen zwar auch bei der Universität bald wieder aus und die Fahrt durch die Hartmeyerstraße übersteht man ohnehin am besten im Stehen, weil Busse und Straßen in Tübingen in einem jämmerlichen Zustand sind.
Zu manchen Zeiten (Schichtbeginn/ende) bei den Kliniken, füllt sich dann bei den Kliniken Berg der Bus wieder, aber es reicht dass alle mitkommen. Die hier übliche Forderung, dass es unbedingt eine Bahnlinie dafür braucht, kann ich gar nicht nachvollziehen. Es scheint mir nur ein hausgemachtes, bewusst aufgebauschtes Problem zu sein, um öffentliche Gelder zu schnorren.
Der 13er der dann knapp hinter dem 5er kommt ist viel leerer und er fährt auch direkter in die Stadt. Trotzdem nehme ich ihn nicht gerne. Auch er rumpelt durch die Hartmeyerstraße und er blockiert bei der Bergabfahrt an der Haltestelle Calwerstraße eine ganze Fahrspur und ich fürchte, dass ihm irgendwann hinten ein LKW drauf kracht. Ich versuche daher immer ganz vorne zu sitzen. Und bin innerlich angespannt.
Der meist zuletzt kommende 17er ist der beste, ist mein Fazit. Der Bus ist bei der Ankunft fast ganz leer, fährt dann gemütlich den Philosophenweg entlang, mündet dann meist knapp hinter einem 3er Bus in die Waldhäuserstraße ein fährt die schon kurz vorher leergefegten Haltestellen durch bis hinunter zur Haltestelle Brunsstraße. Nicht immer, aber sehr oft, ist er der erste an der Haltestelle Am Nonnenhaus.
Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn ich feststelle, dass der 17er ein Dorfbus ist. Viele die ihn regelmäßig nehmen, kennen sich untereinander, sind per Du und der Tratsch im Bus ersetzt ganz gut die in Tübingen meist mangelhaften Lokalnachrichten für die Stadtteile außerhalb der Innenstadt.
Mir gefällt diese Atmosphäre sehr. Ich mag auch, wenn man die Busfahrer beim Namen kennt. Und ich versuche ihnen auch eine gute Fahrt zu wünschen.
Am Samstag nimmt der 17er eine etwas andere Route und er fährt dann beim Herbstenhof vorbei (bekannt durch seine Eulenschlafbäume) und mein Herz lacht, wenn ich sehe, dass der Fahrer eines frühen Busses aussteigt und sich bei der Post eine aktuelle Zeitung kauft. So muss es sein! Entspannt und familiär.
Die Entscheidung welche Alternative ich nehmen soll, scheint einfach zu sein. Man könnte es alleine aus den Fahrplänen ableiten. Aber die Praxis zeigt eine wichtige Lehre: Nur was man intensiv ausprobiert hat, kann man gut entscheiden. Datenblätter sind nicht ausreichend. In der Praxis sind eben die Nebenwirkungen oft wichtiger als die Hauptwirkung.
Was viele Verkehrsexperten wenig berücksichtigen, das sind die Wartebedingungen an den Haltestellen. Auch wenn der 17er der beste Bus ist, die dazu gehörige Haltestelle ist untragbar. Zu klein und zu dreckig. Der Boden voller Zigarettenkippen, manchmal vollgekotzt. Alle meine Vorschläge sie sauberer, besser und pflegeleichter zu gestalten blieben ungehört. Geht nicht oder wir sind da nicht zuständig, so die Standardantwort der Verantwortlichen.
Aber es gibt auch hier einen Ausweg. Die gegenüberliegende Haltestelle ist wesentlich besser ausgestattet. Sie bietet oft Sonnenschein und einen interssanten Blick auf das geschäftige Treiben im Einkaufszentrum.
Also warte ich dort und wenn ich sehe, dass der 17er kommt, wechsle ich die Straßenseite. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Wer daraus schließt, dass das Management der Stadt Tübingen in Verkehrsangelegenheiten und Sauberkeit verbesserungsbedürftig ist: Bingo! Genau so ist es! Wir können in Tübingen eben nicht nur Nicht Hochdeutsch.
Die Corona-Krise 2020 hat noch einen ganz anderen Aspekt wichtig gemacht. Wo steckt man sich am ehesten an? Dort, wo Kranke sind und man sich nahe kommt. Nach meiner Erfahrung optimal im ÖPNV (oder im Wartezimmer von Ärzten oder im Krankenhaus). Praktisch trifft man beide dann im 5er Bus zwischen UKT und Stadt. Seitdem versuche ich ohne 5er auszukommen.
Da die Arbeit meiner Frau systemrelevant ist (sie arbeitet im Altersheim am anderen Ende der Stadt), war ich sehr froh, sie sicher und gesund mit unserem Kleinstauto dorthin bringen zu können. Und ich habe dabei gelernt, dass ich allen Autohassern, die das eigene Auto unbedingt abschaffen wollen, widersprechen werde.
Haltestellen aller Art sind nicht nur Orte, wo man ein-oder aussteigt, sie haben eine viel komplexere Funktion. Als Kind eines Eisenbahners, der ich viel in Bahnhöfen unterwegs war, ebenso wie später als Vielreisender, der oft fliegen musste, habe ich viele Facetten dieser speziellen Orte lieben gelernt.
Sie sind fast immer auch Warteorte, Plätze wo man Nahrung zu sich nehmen kann oder auch wieder ausscheiden kann, wo man vor Witterung geschützt ist. Wo man sich trifft oder wieder auch trennt, man sich informiert oder einfach auch nur mit Unterhaltung Zeit verbringen kann.
Wenn sie entstehen oder umgebaut werden, sind sie eine große Bühne. So groß und faszinierend wie eine Oper, habe ich oft gesagt. Man muss nur genau hinschauen und etwas Fantasie hilft auch dabei.
Dramatische Szenen, Warteschlangen, die im Nu entstehen und wieder verschwinden, wunderbare Maschinenartisten oder auch stümperhafte Anfänger beim Einparken. Dröhnender Baustellenlärm und Vogelgezwitscher können sich abwechseln. Orte der Hilfe, Unterstützung und Freundlichkeit, aber auch abschreckender Gewalt und Rücksichtslosigkeit.
Außer bei großen Bahn- oder Flughäfen und Autobahnraststätten habe ich bisher nur wenige kreative Menschen oder Organisationen entdeckt, die dieses Potenzial besser ausschöpfen. Eigentlich schade.