OTTO BUCHEGGER ERZÄHLT

Wenn man sich überlegt, welche Faktoren der letzten hundert Jahre zu unserem heute einmaligen Wohlstand beigetragen haben, dann wird man früher oder später auf die Normung kommen. Diese Gedankenkette ist nicht leicht nachzuvollziehen, speziell hier in Deutschland, wo man mit genormten Dingen so automatisch lebt, dass man sich ein Leben ohne Normung gar nicht vorstellen kann.

Von außen betrachtet aber fragen sich viele, was denn das Geheimnis ist, dass wir eine so große Rolle im Export spielen. Gerne werden dann die sogenannten deutschen Tugenden wie Fleiß oder Gründlichkeit angeführt. Aber nicht sie alleine, sondern auch spezielles Know-How, waren die Grundlage für das Erfolgsmodell Soziale Marktwirtschaft, das uns für einige Jahre ein einzigartiges Wirtschaftswunder gebracht hat und das bis heute nachwirkt.

100 Jahre DIN, ein Grund zum Feiern im Jahr 2017

Normung, früher noch unter dem Kürzel DIN bekannt, hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Heute sind es internationale Normen (z.B. ISO), vor allem auch Europäische Normen, die für uns wichtig sind. In vielen Ländern heißen die Normen Standards und Geschichten wie diese Standards zustande kommen, sind oft spannend und sie können mit vielen Krimis mithalten. Ich will vorerst nicht auf die organisatorischen und politischen Details, so interessant sie auch sind, eingehen, sondern mich hier mit dem Wesen von Normen und Standards beschäftigen und ihrem Beitrag zum Wohlstand.

Normen und Standards

Salopp gesagt, schreiben Technische Normen (und nur davon ist hier die Rede) Eigenschaften von Produkten, Dienstleistungen und Arbeitsprozessen fest,

Die formale Definition lautet u.a.

„Normung ist die planmäßige, durch die interessierten Kreise gemeinschaftlich durchgeführte Vereinheitlichung von materiellen und immateriellen Gegenständen zum Nutzen der Allgemeinheit."

Erarbeitet werden sie von Normungsgremien, sie werden im Konsens festgelegt und danach veröffentlicht. Die Finanzierung dieser Arbeit erfolgt u.a. durch den Verkauf der Publikationen. Dies ist der Hauptgrund, warum bisher Normen nicht kopiert werden dürfen, sondern bei Bedarf stets neu gekauft werden müssen. In unserer Welt ist dies absolut nicht mehr zeitgemäß, mehr dazu aber später.

Normung hat zum Ziel, national wie international, den Austausch von Waren und Dienstleistungen zu fördern und technische Handelshemmnisse zu verhindern, indem sie die Anforderungen an materielle und immaterielle Güter vereinheitlicht.

Weitere Ziele sind:

Normung selbst hat also wenig mit den sogenannten deutschen Tugenden zu tun. Das Prinzip kann überall sonst auf der Welt ebenso übernommen werden und auch dort zu Wohlstand führen. Sie ist ein klassisches Win-Win-Modell, bei dem die überwiegende Mehrheit gewinnt.

Was braucht man dazu? Gute Fachleute, offene Kommunikation, Konsensfähigkeit, das heißt auch Kompromissfähigkeit und eine gute Dokumentation. Das Interessante dabei ist, dass in den Gremien selbstverständlich auch Konkurrenten sitzen. Wie beim Sport legen sie gemeinsam die Wettkampfregeln fest, wer dann im Endeffekt gewinnt, liegt außerhalb der Normung, nämlich in der Schnelligkeit und Leistungsfähigkeit der einzelnen Players.

Und was verliert man durch Normung? Der Hauptpreis, der für die Vereinfachung und Vereinheitlichung bezahlt werden muss, ist natürlich die Vielfalt. Aber damit kann man meist gut leben, es handelt sich ja um teure, technische Vielfalt, nicht um Lebewesen, die in Nischen leben oder um kulturelle oder künstlerische Produkte. Die Reduktion der Vielfalt führt zu dramatischen Kosteneinsparungen, durch Massenproduktion zu billigsten Produkten, durch die Kompatibilität zu Konkurrenz, die ebenfalls zu niedrigen Kosten führt.

Eine Norm ist ein Geistesprodukt, das nur durch seinen Inhalt überzeugt

Das für mich Faszinierende ist, dass die Norm ein Geistesprodukt ist, das im Wesentlichen nur durch seinen Inhalt überzeugt! Man muss sich ja nicht an diese Norm halten, aber man tut es trotzdem, weil man damit besser fährt. Technische Normen werden nur in Ausnahmefällen erzwungen oder durch Gesetze vorgeschrieben. Im Normalfall überzeugen sie nur durch ihre positiven Effekte für alle Beteiligten. Technische Normen müssen sich bewährt haben, es sind also praktische Produkte, keine Ideen, Fantasien oder Hirngespinste!

Nicht alle Standards entstehen in Gremien. Viele wichtige kommen einfach dadurch zustande, dass viele Menschen sich an sie halten oder sie verwenden. Dazu gehören auch die Industriestandards oder auch de "facto Standards" genannt.

Im Gegensatz zu offenen Standards, die den Wettbewerb fördern, da sie problemlos von mehreren Unternehmen unabhängig voneinander implementiert werden können, fördern Industriestandards gelegentlich Monopolstellungen: Sie entwickeln sich aus dem sowieso bereits am Markt vorherrschenden Produkt und der Hersteller hat die Möglichkeit, eine gleichwertige Implementierung durch Konkurrenten über Patente oder unvollständige Dokumentation zu verhindern.

Trotz vieler Nachteile sind auch die Industriestandards eine wichtige Quelle für den allgemeinen Wohlstand. Denn sie können viel schneller entstehen und reagieren, sich auch verändern und sich so an ein stetig wechselndes Umfeld anpassen. Man sollte nicht vergessen, dass man damit nicht nur viel verdienen kann, sondern auch unheimlich viel investieren muss, damit sie entstehen können!

Es ist übrigens für die Beteiligten gelegentlich auch eine große Last, der Leader zu sein. Alle beobachten genau, was man macht, man wird immer das Ziel von Industriespionage sein, man muss mit vielen Prozessen rechnen und ist oft nicht mehr in der Lage, seine Ideen sinnvoll weiterzuentwickeln, weil man zuviel Rücksicht auf den eigenen Erfolg nehmen muss.

Ein wichtiges Hilfsmittel für die Durchsetzung von Industriestandards sind niedrige Kosten. Man verschenkt einen Teil davon, damit man mit dem Rest Geld verdienen kann. Einer der ersten, der dies erfolgreich praktiziert hat, war Rockefeller, angeblich der reichste Mensch, der bisher gelebt hat. Er verschenkte Öllampen, um damit Öl zu verkaufen.

Manche dieser Methoden werden heute als illegal angesehen, aber ihr Prinzip ist dennoch interessant. Mit dem kostenlosen Element trägt man zur schnellen Verbreitung und Akzeptanz bei, die Basis, die dadurch entsteht, nutzt man für neue Geschäfte.

Ich habe einige dieser Technik-Wellen hautnah miterlebt und auch die entsprechenden Gegenbewegungen mitverfolgt. Stets gab es eine prominente Firma, die dann als allgemeine Gefahr angesehen wurde und auch entsprechend bekämpft wurde. Vergessen wird aber dabei der Standardisierungseffekt dieser Firmen, die zwar zu weniger Vielfalt, aber zu ungeheuren Einsparungen geführt haben. Austauschbarkeit, Kommunikationsfähigkeit, undenkbar viele, neue Geschäftsfelder sind dabei entstanden. Heute haben wir funktionierende, weltweite Netzwerke und Zugriff zu unendlich viel Wissen, und dies alles zu vertretbaren Kosten. Die Folgen, als Globalisierung bekannt, haben insgesamt den Wohlstand auf der Welt dramatisch erhöht.


Wenn Normen zum Problem werden

Wie bei jeder vernünftigen Idee, kann sie, zum Exzess getrieben, eher schädlich sein. Wir kennen dies aus der Normungswut einiger Europäischer Institutionen (den Eurokraten). Das klassische, immer dazu angeführte Beispiel ist die Normung der Gurkenkrümmung (1cm auf 10 cm). Diese Richtlinie (so heißen dort die Normen, die aber Gesetzescharakter haben, EWG 1677/88, Qualitätsnormen für Gurken) sollte 2008 im Rahmen der Entbürokratisierung abgeschafft werden. Sie wurde aber auf Druck der Mitgliedsländer überraschenderweise noch für einige Zeit beibehalten und dabei wurde auch nochmals ihre durchaus interessante Entstehungsgeschichte publiziert.

Schaut man sich an, wo hier der Fehler liegt, dann ist es also offensichtlich nicht der Inhalt der Richtlinie, sondern die Tatsache, dass sie in der Praxis verbindlich ist. Konkret heißt dies, dass zu "Krumme Gurken" vernichtet werden mussten, weil sie nicht verkaufbar und handelbar sind. Das war das Problem!

Die Profinormer haben einen wichtigen Grundsatz für die Normung erstellt, der sehr viel Sinn macht: Nur so viele wie nötig und so wenige wie möglich. Den Eurokraten sollte man noch zusätzlich einbläuen: Keine Richtlinien, wenn es auch Empfehlungen tun! Der Unterschied ist klar. Richtlinien sind Gesetze, die eingehalten werden müssen, Empfehlungen kann man befolgen, muss man aber nicht!

Das zweite große Problemkreis ist die Gültigkeitsdauer. Sollen Normen die Weiterentwicklung nicht behindern, dann muss ihre Wirkungszeit irgendwann ablaufen. Ich liebe Ablauffristen, denn sie erzwingen, dass man die Vorschriften erneut auf ihre Praxistauglichkeit überprüfen muss. Ob man nun das Überprüfungsdatum festschreibt oder das Ende, wird vom Themenkreis abhängen. Zwei Ziele werden damit erreicht. Es gibt keine veralteten und nicht zu viele Vorschriften! Beides wäre kontraproduktiv!

Der dritte Kritikpunkt sind die Interessenvertreter. Normen werden von Gremien verabschiedet, die nicht unbedingt alle Betroffenen vertreten. Es besteht die konkrete Gefahr, dass nur organisierte Gruppen - z.B. durch deren Lobbyisten - berücksichtigt werden, nicht aber die große Masse derer, die damit leben müssen.

Leider gibt es dafür keine simplen Lösungen. Am ehesten kann man hier gegensteuern, in dem man erzwingt, dass die Dokumentation leicht verständlich ist. Je mehr Menschen sie verstehen, desto mehr wird man Feedback bekommen. Um das Problem wirkungsvoll zu lösen, muss allerdings die Verbreitung stark vereinfacht und vor allem verbilligt werden. Versäumt man dies, dann öffnet man dem Populismus Tür und Tor.


Was ich mir wünschen würde

Am Grundsatz der Normung ist wenig zu ändern, denn die Ersparnisse und die Austauschbarkeit sind immer sinnvoll. Mein Hauptproblem ist bislang die Finanzierung dieser Arbeit durch den Verkauf der Publikationen. Dies führt zu drastischen Einschränkungen der Verbreitung, denn man schließt alle aus, die sich dieses Wissen nicht leisten können.

Schafft man den Verkauf ab, dann muss es eine Ersatzfinanzierung geben, denn es ist ein Minimum an Organisation nötig, die Kosten verursacht. In meinen Augen ist dies dann eine Aufgabe der öffentlichen Infrastruktur und muss deshalb in Staatshand sein. Anders ausgedrückt, es sollten die reichen Länder Normung durch Steuern finanzieren und ihre Ergebnisse im Internet allen gratis weltweit zur Verfügung stellen.

Der nächste Gesichtspunkt ist die bessere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Verbraucher. Auch hier würde helfen, wenn die Normung als Staatsaufgabe angesehen wird, denn dann kann die Politik mitentscheiden, was genormt wird.

Es gibt weitere Problemfelder: Wo etwas festgeschrieben ist, ist die Versuchung groß, dass sich Nichtbeteiligte als ungefragte Zertifizierer einschalten und die Konformität mit der Norm - natürlich gegen gute Bezahlung - bestätigen wollen. Vordergründig scheint dies Sinn zu machen, aber die Praxis zeigt leider, dass sich diese Tätigkeiten leicht verselbständigen und nur die Kosten erhöhen, ohne einen Gegenwert zu schaffen. Der Vergleich zur Abzocke liegt dann sehr nahe. Wir können dies leicht an den vielen Siegeln und Labels nachvollziehen, die unsere Produkte zieren und für die Praxis nur wenig Bedeutung haben. Die Menschen verstehen nicht, was sie bedeuten und sie misstrauen ihnen generell, weil sie zu oft enttäuscht wurden.

Wir haben heute andere Möglichkeiten, das Zertifizierunwesen auszuschalten. Als am effektivsten haben sich neben der Herstellererklärung (Konformitätsbescheinigung) die Presseberichte, Foren, Beurteilungsplattformen und Blogs im Internet erwiesen. Sie erlauben vielen, ihre Meinung zu äußern und zu vernünftigen Gesamturteilen zu kommen. Es ist also die Selbstorganisation unserer Gesellschaft, die das Problem löst.

Normen sind Übereinkommen und als solche an Verkehrssprachen gebunden. Leider haben wir in der Europäischen Union, unserem wichtigsten Geltungsgebiet, keine Verkehrssprache, sondern 23 Amtssprachen (Status 2009, Tendenz steigend)! Dies mag ein großer kultureller Vorteil sein, für die Vereinfachung ist es schlicht ein Desaster.

Nun leben wir in einer Globalen Gesellschaft und diese hat ihre Verkehrssprache schon gefunden, nämlich "Simples Englisch". Wir wären also auch in der EU gut beraten, konsequenter diesem Trend zu folgen. Jedes wichtige Dokument sollte also in Englisch vorhanden sein. Dies schließt ja nicht aus, dass es bei Bedarf auch in jede beliebige andere Sprache übersetzt wird. 


Normung war für einige Berufsjahre mein Lebensinhalt. Sie hat mich ungemein menschlich bereichert. Der Kontakt mit klugen Menschen, unzählige Reisen, weltweite Kontakte, aber auch Spannung, Erkenntnis und Unterhaltung haben mich bis heute, fast 30 Jahre nach dem Ausscheiden aus diesem Berufsabschnitt, geprägt. Wer die Chance hat, an den Themen Normung und Standards mitzuarbeiten, sollte sie ergreifen!


Freude zum Schluss

INHALT

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