Es ist eine banale Geschichte, die ich hier erzähle. So banal, dass ich lange gezögert habe, sie aufzuschreiben. Aber sie kam mir immer wieder in den Sinn, wenn ich im Primer an der Neckarbrücke gesessen bin, um das urbane Leben in Tübingen zu beobachten, also muss doch etwas dran sein. Sie ist schnell erzählt.
Ein Mitglied des Tübinger Gemeinderates hat so lange versucht, eine aus Sicherheitsgründen geschlossene Treppe vom Österberg hinunter zur Neckarbrücke zu erneuern, bis sie schließlich doch gebaut wurde. Die Treppe besteht aus einem überdachten Aufgang, einer Art Treppenhaus, das bei der Sanierung im wesentlichen nur etwas verschönert wurde. Und einem freiliegenden Übergang oberhalb einer viel befahrenen Straße, der Mühlstraße, der komplett neu gemacht wurde und der einen unerwartet großen Aufwand erforderte. Sie wurde am 2. April 2017 vom Oberbürgermeister feierlich eröffnet.
Germanenstaffel am 2.4.2017
Im Aufgang sind 80 Stufen (ich habe den ersten Absatz mit dazu gezählt, aber darüber könnte man sicher streiten), im Übergang 117 Stufen. Nach ihm (oder insgesamt 197 bzw. 196 Stufen) teilen sich die Treppen. Wer vom Österberg oben bis zum Neckar gehen will, muss insgesamt über etwa 200 Stufen steigen. Siehe https://www.tuepedia.de/wiki/Germanenstaffel. So weit die Fakten.
Das Obere Ende der Germanenstaffel am 6.4.2017. 197 Stufen sind es bis zum Tor.
Nun kommen die Medien ins Spiel. In der Pressenotiz der Stadt ist nur von 117 Stufen die Rede. Dies wurde ungeprüft vom Tagblatt und SWR so lange falsch wiederholt, bis ganz Tübingen überzeugt war, dass es 117 Stufen sind. Niemand von den lokalen Medien hat sich offenbar die Mühe gemacht, dies nachzuzählen. Dabei ist das Tagblatt nur wenige Schritte von der Treppe entfernt, der SWR auf dem Österberg zuhause und der Tübinger Oberbürgermeister, der diese Treppe auch benutzt, wenn er zu seinem am Neckar abgestellten Fahrrad geht und der sich als ein Mathematiker bezeichnet, war offenbar auch nicht in der Lage, das zu erkennen.
Ich meine, es ist nicht ungewöhnlich, dass man sich um eine oder zwei Stufen verzählt oder verschätzt, aber ein Unterschied von 117 zu 209, das ist fast doppelt so lang, das müsste doch eigentlich auffallen? Sollte man meinen, aber wir leben ja einer postfaktischen Welt. 117 scheint eine einprägsame und fast magische Zahl zu sein, habe ich so gelernt.
Ich habe zuerst einige Zeit versucht, die falschen Angaben korrigieren zu lassen, es war unmöglich. In einer Universitätsstadt, mit angeblich gut gebildeten Menschen, akzeptiert man Fakten nicht mehr. Und ich erwarte auch nicht mehr, dass es von den Medien eine Korrektur gibt, oder gar, dass man sich dafür entschuldigt. Das ist in Tübingen nicht üblich. Man kann sich darauf verlassen, dass die Leute hier alles schlucken. Journalistische Sorgfalt braucht es deshalb hier nicht.
Wie bei einigen anderen in den letzten Jahren gemachten Veränderungen auch, hat man bei der Planung wieder nicht bedacht, wie die Treppe tatsächlich benutzt wird. In der Folge blieb sie dann ab 1. September 2017 nachts geschlossen.
Diese Treppe hieß immer Germanenstaffel, denn sie führt ein Stück entlang des Grundstückes der Verbindung Germania. Als Germanenstaffel ist sie auch in allen Stadtplänen eingezeichnet. Nun, das hat offenbar dem Tagblatt nicht gefallen. Das war vielleicht zu deutsch oder zu nationalistisch, also wurde sie mit der in ihrer Redaktion so beliebten Politischen Korrektheit still und heimlich in Österbergtreppe umbenannt. Kein guter Name, weil es mehrere Treppen zum Österberg gibt. Aber es hat gereicht, um damit Verwirrung zu schaffen.
Denn als man den an der Neckarseite unscheinbaren Eingang am Germaneneck (beim Primer Express) markieren wollte, konnte man sich nicht auf eine Bezeichnung einigen. So gibt es eben keine, nur einen Wegweiser davor, der zum Österberg zeigt. Ich vermute, die Benutzung ist ohnehin so gering (mit E-Bikes hat auch der Österberg seinen Schrecken für Radfahrer verloren und für Touristen ist er kaum noch interessant), dass es auch keine große Rolle spielt. Die Kosten waren immerhin stolze 900.000 und es gab Behinderungen in einer sehr langen Bauzeit.
Sie hatten übrigens einen großen, sicherlich nicht im Voraus bedachten, positiven Nebeneffekt. Mittels des 60 Meter hohen Baukrans konnte man mit airemotion über die Stadt fliegen!
Nachtrag April 2018: Es gibt jetzt einen gut sichtbaren Hinweis für die Treppe.
Treppe zum Österberg
Ich verfolge seit Jahren die Debatte um die Glaubwürdigkeit der Medien (siehe Schlagworte Lügenpresse und Fake News). Eine akzeptierte Erkenntnis scheint dabei zu sein, dass man den Lokalmedien bessere Chancen für ein Überleben gibt, weil man ihre Meldungen leichter überprüfen kann. Aber vielleicht ist gerade das ihr Untergang. Diese Story hier könnte den Schluss nahelegen. Naja, es trifft mich nicht mehr. Ich rede lieber persönlich mit den Menschen in Tübingen.
Baukran in der Mühlstrasse am 17.1.2017
Baukran in der Mühlstrasse am 12.2.2017
Baukran in der Mühlstrasse am 15.2.2017
Baukran in der Mühlstrasse am 19.2.2017
Germanenstaffel am 6.4.2017. Ein virtueller Aufstieg.
Germanenstaffel am 22.10.2017, diesmal von Oben nach Unten